Es sind die letzten Ferientage vom Mini – ab Montag geht die Schule wieder los und er kommt in die zweite Klasse. Die letzte Ferienwoche ist tatsächlich die einzige, gemeinsame Urlaubswoche und als vor einigen Monaten die Überlegung aufkam, wo wir diese Woche Urlaub machen würden entschloss ich kurzerhand „Ich brauche eine Woche Usedom im Sommer“. Denn auch wenn dies hier und da auf Unverständnis stößt im Sommer nicht mal „richtig“ Urlaub zu machen, kann ich mir einen Sommer ohne diese Insel einfach nicht vorstellen.
Hier sind sowohl David als auch ich aufgewachsen, hier verbrachten wir unsere Kindheit und Jugend. Hier war unser Zuhause. Und wenn wir hier sind, bei meiner Omi in der Küche Mittag essen – welches sie wie schon vor 30 Jahren noch mit ihrem Ofen zubereitet – dann ist das irgendwie immer noch wie nach Hause kommen. Ich liebe das Vertraute hier, die weiten Felder und Wälder, diesen ganz bestimmten, dumpfen Klang am Strand. Ich liebe den salzigen und leicht fischigen Geruch, sobald man auch nur in die Nähe von der Ostsee kommt und den Duft vom Wald und modrigem Holz, wenn man um den Wolgastsee spaziert. Den Weg, den ich als Kind so oft mit unserem Hund oder dem von Bekannten entlang ging, würde ich selbst heute noch blind laufen können. Der Wald, der sich dort entlang zog, war mein Spielplatz. Hier fand ich mit Freunden alte Bunker, Teile von abgestürzten Flugzeugen und wir verfolgten Tierspuren. Wir sammelten Kräuter, Pflanzen und Pilze und brauten uns daraus fragwürdige Getränke. Nach Regenfällen trafen wir uns im Tunnel, wo sich das Wasser sammelte, und bewarfen uns mit Matsch, sangen dabei lauthals uns er eigens dafür komponiertes Lied. Im strömenden Regen bei Gewitter traf ich mich mit meiner besten Freundin auf halbem Weg – es waren für jeden von uns ca. drei bis vier Kilometer – und gingen anschließend wieder nach Hause. Als wir unseren Führerschein hatten, fand sich immer jemand zum Fahren und gemeinsam fuhren wir nach Wolgast zu McDonalds und machten anschließend eine OKF – die berühmte Ortskontrollfahrt.
All diese Erinnerungen verbinden mich mit dieser wunderbaren Insel, werden für immer in mir sein. Fast alle meine Freunde lernte ich hier kennen, auch David lernte ich hier kennen. Das Aufwachsen auf und die Menschen von dieser Insel machten mich zu der Person, die ich heute bin. Und immer wenn ich hier bin, fühle ich mich wieder ein bisschen so wie früher. Und dennoch hat sich vieles verändert, seit ich nicht mehr hier wohne. Der Wald, den ich früher meinen Spielplatz nannte, ist inzwischen zum Großteil abgeholzt. Meine Freunde, mit denen ich mich früher hier traf, sind ebenfalls weggezogen. Ahlbeck, Heringsdorf, selbst der Flugplatz (der im übrigen zwar Heringsdorf heißt, eigentlich aber in der Nähe meines ursprünglichen Wohnorts Zirchow ist) hat sich auf so abstruse Weise baulich verändert, dass es eigentlich schon weh tut. Stück für Stück werden hier Orte meiner Kindheit und Jugend durch moderne, dunkle Klötze ersetzt, die so gar nicht in das Bild dieser Insel passen. Und mit jedem Besuch auf der Insel stelle ich fest, dass wieder irgendwo ein eigentlich bekannter Platz inzwischen fremd ist. Nein, Usedom ist nicht mehr mein Zuhause und wird es wohl auch nicht mehr werden – zumindest nicht in absehbarer Zukunft und vermutlich auch nicht, solang ich arbeite.
Heute fahren wir wieder in die Lüneburger Heide – den Ort, den wir seit einigen Jahren unser Zuhause nennen. Seit zwei Jahren wohnen wir dort in unserem Haus, haben eine wunderbare Nachbarschaft. So gut wie wir dort aufgenommen wurden, fühlte es sich sehr schnell nach einem Zuhause an. Man kennt sich, bei einem Spaziergang trifft man eigentlich immer jemanden und unterhält sich kurz über dies und jenes. Die Landschaft ist wunderschön, erinnert mit den Feldern und Wäldern teilweise an die auf Usedom. Das Meer fehlt, dafür gibt es hier die berühmte Heidelandschaft, die auch aktuell wieder mit ihrer wunderschönen Blüte besticht. Ich freue mich sehr darauf, heute Abend wieder dort zu sein. Schauen, wie unsere Hochbeete sich gemacht haben und noch auf unserer Terrasse zu sitzen.
Und dennoch sticht mich ein bisschen Wehmut, die Verlockung noch eine Nacht länger hier zu bleiben ist groß. Gerade am Tag der Abreise spuken mir Gedanken durch den Kopf, was wäre, wenn wir noch hier wohnen würden. Wenn unsere Kinder ebenfalls hier aufwachsen würden, ihre Großeltern nur einen Katzensprung entfernt wären und keine stundenlange Autofahrt. Sicherlich würden wir alle davon profitieren, wenn die Kinder krank wären könnten Omas und Opas einspringen und wir normal arbeiten. Aber genau das ist eben der Punkt – die Arbeit. Hier auf der Insel Usedom wäre ich trotz all der organisatorischen Vorteile und der Nähe zu den Familien arbeitstechnisch einfach nicht glücklich. Sicher, in meinem Beruf hätte ich die Möglichkeit zu 100 % im Homeoffice zu arbeiten. Aber möchte ich das? Nein, ganz sicher nicht. Ich brauche den direkten Kontakt zu den Kollegen, persönliche Meetings mit Kunden und kurze Abstimmungswege. Das wäre hier einfach nicht gegeben, außer ich wechsle in die Tourismus-Branche. Das allerdings kommt noch weniger infrage.
Usedom mag nicht mehr mein Zuhause sein – aber es ist meine Heimat. Mit dem wunderschönen Wald, in dem ich jedes Versteck kannte. Mit den weiten Feldern und Wiesen, dem Wolgastsee, der Ostsee und der Promenade. Mit dem kleinen, alten Bauernhaus meiner Großeltern inmitten den Lieper Winkels, alleinstehend in der kleinen Senke und dem dazugehörigen großen Stall und der Scheune. Auch wenn sich an all diesen Orten so vieles verändert hat, in meiner Erinnerung sieht meine Heimat manchmal noch so aus wie vor 20 Jahren – und genau so bewahre ich es in mir.